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Frühjahr 2006


20.4.2006, L-Esch sur Alzette, Rockhal

Unser Mann in Luxemburg Roby hat einen Independent-Förderverein gegründet. In Luxemburg ist so etwas nicht nur nötig (das ist es an sich überall) sondern auch möglich. Ein ganz erstaunliches Fürstentum. Die erste Aktion von Panoplie, so der Name, ist ein Festival in der Rockhal in Esch, einer 6000-Leute-Halle, wo sonst Tool, Korn und die Sisters Of Mercy den Fans zeigen, wie es aussieht, wenn sie alles geben. Es gibt noch eine Nebenhalle, die vermutlich 1000 Leute faßt und in die immer, so wird uns vorher erzählt, 100 Leute kommen. Egal, wer spielt: 100 Leute. Das wäre immerhin eine Verhundertfachung der nach dem Vorverkauf zu erwartenden Zuschauer (bzw. des Zuschauers).
In der Geschichte ist gleich am Anfang ein formal interessanter Sprung, denn eines der frühen Highlights des Ausfluges ist die zeitlich vorher gelegene Hinfahrt. Wir kommen sehr schnell im Ort an, aber finden keine Rockhal. Wir irren hin und her, von einem Ortsende zum nächsten, aber alles was wir finden, ist der Park&Ride-Parkplatz für die Rockhal, der geographisch rein gar nichts mit der Rockhal zu tun hat und von dem aus Shuttlebusse die Sisters-Fans zu Andrew Eldritch fahren. Wir fragen uns durch, Mauri muß es machen und nähern uns einer unheimlichen Gegend. Ein Pförtner nickt uns freundlich zu und lässt uns passieren als wir in eine Mondlandschaft einfahren, in der abertausende von Quadratkilometern alles voller Industrieschrott und kaputten Fabriken steht. Die Zone ist frei von Menschen, vereinzelte Baufahrzeuge sind der einzige Hinweis darauf, daß hier manchmal etwas passiert. Vermutlich weiterer Abriß. Wir haben Angst, daß gleich Polizei oder Hells Angels kommen und uns nach allen Regeln ihrer Kunst aufmischen. Nach etwa einer Viertelstunde Industriewüste und postmodernem Ödland stehen wir vor einem Quader, in dem auch gut Raumschiffe gebaut werden könnten. Es ist die Rockhal, was wir im ersten Moment nur daran erkennen, dass Stefanies Schwester Su, mit der wir uns verabredet hatten, recht verloren vor dem großen Gebäude steht, wartet und winkt. Die Räume sind riesig, hallen wie eine Tropfsteinhöhle und füllen uns zugleich mit Respekt und Frohsinn. Als wir reinkommen sind Planetakis gerade beim Soundchceck, sonst ist noch keiner da und alles ist extrem gelassen, eine typisch letzeburgische Tugend. Drängelndes Thekenpersonal, wie Rohrspatzen fluchende Alkoholiker als imkompetente 'Hausmischer' - das alles gibt es hier nicht, für so was muß man schon nach Köln fahren (bzw dort bleiben). Wir werden durch fußballstadionartige Katakomben in die obere Etage geführt, wo immer zwei Bands eine Garderobe teilen. Wir mit Katze, aber die kommen erst später und so leisten uns Planetakis etwas Gesellschaft, als unten Mell ihren Soundcheck machen. Wir essen Muffins und Äpfel und Niklas mischt sich einen Wodka mit Red Bull nach dem anderen, er katapultiert sich dadurch direkt zurück in seine eigene Jugend, weil er die Partitionen seines Verstandes vorübergehend deaktiviert, die seither dazugekommen sind. Er will Mauri mitreißen, der auch gerne mal schon am frühen Tag tief ins Glas schaut, aber er ist eher auf entspannt-gelöste Konzentration aus statt auf enthemmten Wahnwitz und steigt schnell auf kaltes Dosenbier um. Katze kommen an und es gibt das, was in Lokalzeitungen gerne als großes Hallo bezeichnet wird. Alle sind begeistert über das Wiedersehen, die Sonne scheint, es ist warm wie der erste Sommertag und wenn auch nur eine Karte vorverkauft sein mag, kann schon jetzt nicht mehr viel schief gehen, so gut ist die Laune. Der Soundcheck ist schnell und reibungslos, die Bühne groß und vollgestellt mit Monitoren, es ist ein wahrhaftes Hörerlebnis für uns selber. Wir suchen uns Essen vom Bringdienst aus und gehen nach einem kurzen Interview (in dem der Journalist Lex erstaunlich pfeilgerade fragt: wie viele Platten verkauft ihr so? Für uns überhaupt keine heikle Frage, weil es eine ist, mit der wir uns selber beschäftigen, aber sie wird sonst nie so direkt gestellt. Sehr gute Haltung.) die Gegend erkunden, Niklas freut sich schon den ganzen Nachmittag auf die abrissreife Fabrik und seit Roby das Geheimnis gelüftet hat, gibt es für uns alle kaum noch ein Halten: hier soll ein neuer Stadtteil entstehen und die ersten Dinge, die gebaut wurden sind ein Bankomat und die Rockhal. Die ganze ehemalige Metallindustrie kommt weg und eine Universität wird hingestellt. Oder Studentenwohnungen. Oder beides. Der Boden ist komplett verseucht und auch das ist natürlich kein Witz. Wir laufen los, werfen Steine in Rohre oder alte Fenster, schreien in ehemalige Fertigungshallen und wissen genau: wir sind der Nährboden der sogenannten neuen Romantik, eine die Schönheit von Industrieanlagen verklärende oder gar mythisierende Ausrichtung nicht nur zu dichten, sondern zu denken, zu leben und Livemusik zu spielen. Ach so, gibt es schon, heißt Industrial und ist Schnee von gestern. Na egal, dann gehen wir eben zurück in die Rockhal, wir haben eh das meiste erledigt hier und blieben wir länger, würde Niklas sich eventuell nackt ausziehen und brüllend Schornsteine emporklettern. Das Essen ist etwas fad und lauwarm, leider gibt es kein Salz und in Sus vegetarischer Pizza Calzone ist Schinken eingebaut. Mauri tauscht mit ihr gegen seine 4 Käse-Pizza. An anderen Abenden würden wir vielleicht maulen und nach feinerer Speise verlangen, aber in unserer Superlaune würden wir vermutlich auch Lehm, den man uns als Mousse au Chocolat reicht mit Freude schlecken und genießen das Essen. Roby vertraut uns an, daß er uns als Adoptivluxemburger betrachtet, ein Titel, mit dem wir nicht nur einverstanden sind, sondern den wir stolz tragen, er ist ganz dicht dran an dem Tag, als Steve Malkmus in einem Interview sagte 'You wanna know, where I got it all from? You ever heard of a German four piece called Locas In Love? That's where. Check those guys out, they are the best. I mean it. The best.'. Leider ein weiterer Wachtraum, aber er könnte illustrieren, daß wir uns hier sehr wohl fühlen.

Den Abend eröffnen Sing Song Girl mit einer ziemlichen Gagashow, die einerseits hochgradig ballaballa ist, aber irgendwie kann man auch nicht aufhören zuzusehen, weil ständig irgendwas neues verrücktes passiert. Danach sind wir bereits dran. Wie üblich für den Raum sind um und bei 100 Leute da, was in der riesigen Halle nicht viel ist, aber irgendwie ist es dennoch so, daß es keinen Moment gibt, in dem ein Gefühl im Raum ist, das alles ausbremst, weil der Funke nicht überspringt oder sich im großen Raum verliert. Die Show ist in einer wohligen Bewegung und fühlt sich für uns spitze an. Vielleicht auch, weil wir schon so lange keinen nutzbaren Proberaum mehr haben oder nur noch damit beschäftigt waren, über Musik zu reden statt welche zu machen. Jede einzelne Minute ist herrlich und ein großer großer Genuß für uns. Wir spielen nahezu nur die neue Platte und schließen mit Our Hearts. Kaum sind wir von der Bühne kommt Klaus, wir nehmen uns froh in den Arm und er ruft 'The Who, Velvet Underground und ihr'. Robert behauptet, als er die Augen bei Our Hearts geschlossen habe, dachte er, er sei im Sonic Youth-Konzert. Solche Komplimente kommen sehr gut an bei uns, die wir sowas von durstig auf Livemusik, Rumhängen mit Freunden und sich dabei gut fühlen sind.

Weil wir die Fotosession   nach dem Konzert zu lange mitmachen, verpasst Su ihren Zug und wir bleiben alle noch etwas. Sie wird später von Roby nach hause gefahren, eine weitere luxemburgische Tugend. Wir hängen alle noch etwas in der Hal herum, sehen uns etwas Musik an und genießen es, da zu sein. Leider müssen wir aufbrechen als Planetakis anfangen, weil Stefanie und Björn morgen früh beide auf die Arbeit müssen. Wir verabschieden uns erfüllt und aufgepeitscht. Wir sind uns auch im Rückblick sicher, daß dieser Tag seine Schönheit daraus schöpfte, daß alle sich wohl fühlten da zu sein und wohl, daß die anderen da sind, daß man gut behandelt wurde und ein gutes Konzert spielen konnte und mehrere davon sehen und nicht daraus, daß Niklas die Atmosphäre befeuert durch seine Happydrinks mit Ausgelassenheit und Joie de vivre auflud. Um noch ein letztes Stückchen Luxemburg mit nach hause zu nehmen tanken wir einmal voll. Auch daß das Benzin hier so günstig ist ist ein Pluspunkt für den coolen Kleinstaat in Europas hektisch schlagendem Herzen. Wir akzeptieren hiermit die Ernennung zu Adoptivluxemburgern. Im Juni ziehen wir bei Roby ein.